KALLIGRAFIEN

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Xavier Queipo

I

Widme dich deinen Kalligrafien. Mit Bedacht. Ohne Pause. Mit Bedacht. Nimm die schwarze Tinte als sei sie Gold. Vor jeder Bewegung, bedenke jeden Wink, jeden Strich, jedes Kreisen des Pinsels in der Luft. Lausche. Die Ohren gespitzt. Hör nun wie das Papier den Geist der Tinte aufsaugt. Dann halte den Pulsschlag, dein Handgelenk, oben. Denk an den Kopf des Drachen, den Körper des Geliebten, das Unwetter gestern. Dann, ja, plötzlich, wie eine Knute, sende den Nerven des Pferderückens gebündelte Order, lass die Finger schwirren, zeichne eine Spirale, erleichtere deinen Arm in einem flüchtigen Impuls.

 

II

Beginne wieder in der Mitte. Halte dich nun nicht zurück. So. Mit Hingabe und Fassung zugleich. Jedes Pinselhaar im Griff. Deinen ganzen Körper kontrollierend. Spannung. Jede Bewegung der Handgelenke, jede Drehung. Nimm die schwarze Tinte als sei sie Gold. Betrachte die labyrinthische Spirale. Leg den Pinsel hin. Bedenke jede Bewegung, jeden Wink, jeden Moment des Pinsels in der Luft. Stell dir ein Mandala vor, eine Linie, einen Punkt. Entspanne.

 

III

Nun schließe die Augen und wiederhole die Bewegung. Dieselbe. Erinnere dich der Details. Jedes Detail, jeden Punkt. Stell dir eine einarmige Choreographie vor. Nimm den Pinsel. Benetze ihn in mit Tinte. Fahre fort bis dir die Spiralen genau gleich gelingen, mit offenen Augen und geschlossenen Lidern. Bis niemand unterscheiden kann, welche offenen Auges gezeichnet wurde und welche aus blindem Impuls deines inneren Flusses.

IV

Fahre so fort in deinen Kalligrafien. Langsam. Nimm die schwarze Tinte als sei sie Gold. Langsam, bis auf der Stirn, in der Achse der einzigen Braue, es kreisend zu glänzen beginnt. Erst dann lass ab von dem betäubenden Rhythmus deiner Kalligrafien, denn du kennst schon, sicher, den Wert jedes Zeichens, wie viel es braucht, bis es da ist, die Mühe, die es braucht, die Arbeit seiner Entstehung. Von der nimm den Pinsel und beginne, Sätze und Absätze zusammenzustellen, sparsam in der Wahl deiner Mittel: jede Silbe abwägend, jedes Wort, jede mögliche Betonung.

 

V

Die Pinsel wissen schon nicht mehr was sie zeichnen, folgen nur den Pfaden der Handgelenke des Kalligraphen. Wie Tätowierungen auf Fasern hinterlassen sie Botschaften in einer Sprache die sie nicht kennen. Es stimmt nicht, dass die Sterne weinen, dass es über uns regnet, dass sie Nebel sind, sie dem Weg folgen, den Hanuman ihnen zeigt, der grammatische Affe, der des starren Ritus und des schrillen Schreis, sonnengleicher Langmut und blutrünstiger Wut. Die Pinsel wissen schon nicht mehr, was sie zeichnen. Erst dann, mein Lieber, wirst du die Kunst des Schreibens beherrschen.


aus: hotel ver mar.
Frankfurt am Main 2009